Von Marion: Die vierte Reisewoche – Okt24
Sucre – La Paz – Copacabagna am Titicacasee – La Paz – Palos Blancos – Rurrenabaque – Dschungel – Pampas – Palos Blancos – La Paz – eine Häuserzeile im Nirgendwo kurz vor der chilenischen Grenze
Auf dem Weg nach La Paz wollen wir in Oruro übernachten, aber diese Stadt ist so hässlich, dass wir nur wegwollen, also hängen wir die zweite Etappe noch an. Im Abendlicht liegen plötzlich schneebedeckte Berge und ein riesiges Häusermeer vor uns. Was für ein Anblick! Als ich denke, dass wir gleich da sind, fahren wir noch eine gute Stunde auf teils wahnsinnig holprigen Wegen steil bergab. In der Dämmerung erkenne ich immer wieder ein Gemisch aus Felsen und Häusern, die sich in den Talkessel schmiegen. Nur noch 17 Kilometer, sagt Wolfgang. Wie lange können 17 Kilometer sein? Dann sind wir endlich da. Es ist bereits dunkel und Oscar öffnet uns die Garage zu seinem Hostel. An der Wand stehen drei Regeln: Rauchen verboten. Fühle dich wie zu Hause. Es ist jeden Tag Freitag. Tatsächlich fühlen wir uns sofort wie Daheim. Oscar ist ein unglaublich herzlicher Gastgeber, der uns am nächsten Tag die Stadt zeigt. La Paz liegt zwischen 3100 und 4100 Metern und hat so gar nichts mit dem Bolivien, das wir kennen gelernt haben gemeinsam. Während wir mit dem größten urbanen Seilbahnsystem der Welt – gebaut von der österreichischen Firma Doppelmayr – über die Stadt schweben, bekommen wir den Mund vor Staunen kaum zu. Was für eine spektakuläre Lage! Keinerlei Müll auf den Dächern und in den Straßen. Keine kaputten Ruinen und viele der Häuser sind verputzt und haben sogar einen farbigen Anstrich! Diese Stadt mit insgesamt 11 Seilbahnen zu erschließen, war eine super Idee! Es ist unglaublich entspannt und einfach, eine Millionenmetropole auf diese Weise zu erkunden. Umso anstrengender sind die Spaziergänge, da es fast immer bergauf oder bergab geht, die Luft sehr dünn und außerdem dermaßen von Abgasen verpestet ist, dass ich aus dem letzten Loch pfeife. Am nächsten Tag fahre ich alle Seilbahnen, weil es mir so viel Spaß macht, diese unglaubliche Stadt von oben zu betrachten. Am Friedhof steige ich aus und wundere mich, dass in fast jedem Grab-Fenster eine kleine Flasche Coca-Cola steht. Aber ja, das passt zu dem, was ich hier beobachte. Die Menschen lieben Softdrinks und auf fast jedem Tisch im Restaurant steht eine riesige Flasche Cola.




Der Camino de la Muerte hat seinen Namen nicht von ungefähr und lässt mein Abenteurer-Herz höherschlagen. Als wir losfahren, merke ich, dass mit meinem Motorrad etwas nicht stimmt, weil es komisch nach links zieht und eiert. Es stellt sich heraus, dass ich fast keine Luft im Vorderreifen habe. Mist, das war noch nie, bestimmt habe ich einen Platten. Wolfgang will das Vorderrad schon ausbauen, aber Oscar, der uns begleitet, untersucht den Vorderreifen und ist der Meinung, dass es kein Platten sein kann, weil er keinen Nagel oder Ähnliches findet. Er pumpt den Reifen auf und er hält! Wir schrauben uns durch den Verkehr von La Paz bis nach ganz oben. Nach einem herrlichen Stück auf der Landstraße, geht es rechts weg auf einen Schotterweg, den Camino de la Muerte (Straße des Todes), und der ist ein Traum! Es geht entlang einer abschüssigen Straße, unter Wasserfällen durch und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dies einmal die einzige Hauptverkehrsstraße gewesen sein soll. Kein Wunder, dass auf diesem Weg viele Menschen ums Leben kamen, denn es gibt nur wenige Ausweichstellen, um aneinander vorbeizufahren. Inzwischen existiert parallel eine breite und geteerte Straße und der Camino wird nur noch von abenteuerlustigen Touristen bergab benutzt. Wir starten auf 4500 Metern Höhe, durchqueren gemeinsam mit einigen Mountainbikern drei Vegetationszonen und kommen auf 960 Metern an. Nach und nach lege ich alle meine Jacken ab, zuletzt haben wir tropische 36 Grad, die Landschaft ist grün. Das tut so gut nach vier Wochen Wüste! Nachdem wir zwei Stunden auf holprigem und teilweise rutschigem Weg bergab gefahren sind, endet der Weg. Ein Erdrutsch blockiert die Straße, lediglich ein paar wackelige Bretter führen über einen tiefen Abhang. Während die Mountainbiker ihr Fahrrad über den Steg schieben, kann ich mir nicht vorstellen, diese Passage mit den schweren Motorrädern zu meistern. Aber Oscar ist anderer Meinung und so schieben wir die Maschinen über diese wackeligen Bretter, was einer Schwerstarbeit gleicht. Zwei Radfahrer helfen mit und es gelingt. Unfassbar!





Nach einem Mittagessen und einer Pause am Swimmingpool geht es auf einer geteerten Straße zurück nach La Paz.

Wir schrauben uns wieder hoch auf 4500 Meter, genießen grandiose Aussichten, fahren zum Schluss durch dicke Nebelwolken, bleiben aber trocken. Dann sehen wir von weitem eine beeindruckende Häuserwand. La Paz! Am Ende eines langen und anstrengenden Fahrtages erwartet uns noch eine Millionenstadt im Feierabendverkehr, die wir komplett von oben nach unten in der Dämmerung durchqueren müssen. Neben viel Verkehr haben wir es mit tiefen Löchern in der Straße zu tun, Fahrzeugen ohne Licht und Hunden, die sich wohlig mitten auf einer stark befahrenen Straße räkeln, orientierungslos herumlaufen oder bellend neben uns herspringen, aber ich bin nach dieser großartigen Fahrt so vollgepumpt mit Adrenalin, dass ich sogar daran noch Spaß habe. Am Abend singt und spielt sein Neffe auf der Gitarre, wir haben Rundumblick auf das nächtliche La Paz, kann es noch besser kommen?

Wir verabschieden uns von Oscar, dem besten Gastgeber, den man sich nur wünschen kann. In seinem schönen Haus mit einem herrlichen Rundumblick auf die Stadt haben wir uns von der ersten Minute an wie daheim gefühlt, als wären wir freundschaftlich bereits seit langem verbunden gewesen. Oscar hat uns die Stadt gezeigt, hat mit uns gegessen, hat uns mit Benzin versorgt (was bei dieser schlechten Lage wirklich ein Geschenk ist!) und uns auf den Camino de la Muerte begleitet. Das waren wunderschöne Tage in La Paz, die ich nie vergessen werde, doch nun geht es weiter an den Titicacasee. Diesmal wird es eine kurze Fahrt und ein entspannter Tag, so glauben wir bei der Abfahrt. Obwohl sich der Verkehr um die Mittagszeit in Grenzen hält, brauchen wir ca. eineinhalb Stunden, bis wir aus dieser Megacity draußen sind. Oben in El Alto, der ärmeren Schwesternstadt von La Paz sind die Straßen teilweise so schlecht, dass wir froh sind, geländegängige Motorräder zu haben. Gemeinsam mit den starken Steigungen eine echte fahrerische Herausforderung! Nach einer Stunde auf der A2 sind wir plötzlich fast allein auf der Straße, sehen bereits den Titicacasee, an dem es dann entlang geht und genießen die herrliche Landschaft. Mittelmeervibes kommen auf, angesichts der bergigen Landzungen und dem riesigen See, der 15x so groß ist wie der Bodensee und wie ein Meer daliegt. Einzig die Flora passt so gar nicht zum Mittelmeer und das liegt daran, dass dieser See auf 3800 Metern liegt. Er ist der höchstgelegene See der Welt und entsprechend kühl ist es hier oben. Nachdem Oscar uns erzählt hat, dass wir auf gar keinen Fall am Wochenende hierherfahren sollten, weil die reichen Leute aus La Paz hier wären, haben wir uns einen schönen Ferienort vorgestellt und eine große Fähre. Da haben wir vergessen, dass wir in Bolivien sind. Die Fähren sind so klein, dass sie jeweils nur drei Autos oder einen LKW bzw. Bus fassen und der Boden aus ein paar Holzplanken besteht.
Wir müssen rückwärts wieder rausfahren bzw. rausschieben, was kein Problem wäre, wenn das Auto hinter uns als erstes rausfahren würde. Aber anscheinend gibt es einen Streit wegen der Bezahlung und der Autofahrer bewegt sich keinen Meter. Mühsam kämpfen wir uns mit der Enfield an ihm vorbei und überwinden das metergroße Loch zwischen Boot und Festland auf einem schmalen Brett. Ich bin total durchgeschwitzt. So viel zu: Das wird ein entspannter Tag. Ich fahre Olivia aus der Gefahrenzone und als ich zurückkomme, um Wolfgang zu helfen, ist das Auto endlich weg, Wolfgang kann mit Hilfe eines weiteren Brettes seine BMW auf dem Boot umdrehen und vorwärts herausschieben. Das wäre geschafft! Wir sehen uns an und lachen: Kein Tag ohne ein neues Abenteuer! Die Straße bis Copacabana ist herrlich und von oben fügt sich der kleine Ort wunderschön in die Bucht. Unten angekommen stellen wir ernüchtert fest, dass auch dieser Ort kaum schöner ist als die anderen Orte in Bolivien. Das empfohlene Hostal entpuppt sich als dunkles Loch. Zum Glück haben wir von Oscars Tochter eine tolle Hotelempfehlung. Wir bekommen ein Zimmer mit Blick auf den See und das beste Abendessen, seit wir in diesem Land sind. Beim Spaziergang durch den Ort am nächsten Morgen kann ich mir immer noch nicht vorstellen, hier Urlaub zu machen. Wie gut wir es doch haben, so nah am Mittelmeer zu wohnen! Wir besichtigen die große Kirche in diesem kleinen Ort und landen mitten in einem Gottesdienst. Musik erklingt und ich denke mir, dass wir Deutschen wirklich die traurigsten Kirchenlieder von allen haben. Danach finden wir einen authentischen Markt und treffen auf Menschen mit unglaublich interessanten Gesichtern, Gesichtern, die ein Leben erzählen. Ohne Botox und Filler.

An der Grenze zu Peru gibt es diesmal Probleme. Angeblich fehlt mir eine Apostille, die Beglaubigung meiner notariell bestätigten Dokumente des Konsulats in Chile, unglaublich, diese Wichser. Ich schicke Wolfgang weiter, um nach La Paz umzukehren, wo ich auf dem dortigen Konsulat die Apostille bekommen soll. Bastien, ein netter Schweizer, auch auf einer Himalayan begleitet mich, zum Glück, denn die Fährpassage erfordert lange Beine und die hat er reichlich. Außerdem scheint er ein Superhirn zu haben. Er spricht fünf Sprachen fließend und navigiert zielsicher durch La Paz, als wäre er hier groß geworden, obwohl sein Handy nur einen Spalt aus seinem Tankrucksack schaut. Ich hätte wahrscheinlich ständig stehen bleiben müssen, um mich zu vergewissern, wie es weitergeht.

Die Apostille bekomme ich am chilenischen Konsulat in La Paz nicht, sie ist online zu beantragen. Man darf nur eine Datei hochladen. Es muss ein PDF sein. Diese Arschgeigen. Ich habe kein gutes Gefühl, eher, dass meine gemeinsame Reise mit Wolfgang vorbei ist. Aber ich habe gelernt, dass jede unangenehme Situation auch etwas Gutes bereithält und genauso ist es auch diesmal. Oscar empfängt mich mit „Welcome back home!“ Er fährt mit mir ins Chilenische Konsulat und zu Royal Enfield, wo sich sofort jemand um den Service meiner Olivia kümmert. Der Chef der Werkstatt, Rolando ist unglaublich nett, bietet uns zu essen und zu trinken an und spricht einen Satz, der mir lange in Erinnerung bleiben wird: „Ein einziger Mensch kann alles verändern!“ und da wird mir bewusst, dass hier zu sitzen und mit Oscar und Rolando zu sprechen für mich mehr bedeutet, als sich mit anderen Touristen in einem Boot eine Insel anzuschauen. In Bolivien haben wir uns zunächst nicht so richtig willkommen gefühlt, bis wir Oscar kennen gelernt haben. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir Bolivien plötzlich mochten. Ein einzelner Mensch, der alles verändert hat, mit seiner Hingabe an uns Fremde, die er schnell zu Freunden gemacht hat.

So verbringe ich meine nächsten Tage in La Paz, und habe Gelegenheit, tiefer in das Leben dieser Stadt einzutauchen, als wenn man nur auf der Durchreise ist. Oscar nimmt mich mit zur Tanzaufführung der dreijährigen Tochter seines Neffen. Ein Kindergarten wie bei uns in Deutschland, niedliche Kinder tanzen in tollen Kostümen, die Angehörigen in Jeans und Freizeitkluft, eine einzige Frau in der traditionellen Kleidung. Ich sehe einen alten Herrn, der den halben Tag damit zubringt, ein Stück eingebrochene Straße aufzuschütten. Eine noch ältere Frau geht gebückt auf einem Stock, reicht mir bis zum Bauchnabel und kassiert die Parkgebühr für das Valle de la Luna. Alte Menschen müssen hier noch hart arbeiten.
Zwei junge aufgebrezelte Bolivianerinnen filme ich für ein Video auf Tik-Tok. Ein junger Bolivianer, der mit seinem Motorrad neben mir parkt und mein chilenisches Kennzeichen sieht, spricht mich an und fragt, ob ich tatsächlich von Chile bis hierhergefahren sei. Er würde das auch gerne machen, traue sich aber nicht, sein Land zu verlassen. Ich frage ihn, wovor er Angst hat. Er weiß es nicht, es sei einfach so ein unbestimmtes Gefühl. Ich versuche, ihm diese Angst zu nehmen und erkläre ihm, dass außerhalb Boliviens alles einfacher wäre: Kein Benzinproblem, keine Straßensperren … Er bedankt sich, dass ich ihm Mut mache. So ein netter Typ.

Ich fahre mit Oscar, Emily und Antonio zu einem Motocross-Rennen und lerne einen Motorradfahrer kennen, der bereits sechs Mal bei der Rallye Paris-Dakar teilgenommen hat und fährt wie Hölle.



Er springt so hoch, dass ich mich glatt darunter stellen könnte. Es sind schöne und interessante Tage, aber auch Tage der Unsicherheit, ob ich diese Beglaubigung erhalte und vor allem wann.
Der nächste Tag beginnt wieder mit einer neuen Erfahrung. Oscar will ein Bad in die Garage bauen und kauft das WC, Waschbecken und die Dusche mitten in der Stadt.

Ein ganzer Straßenzug mit Sanitär, ein weiterer mit Elektroartikeln, lauter kleine Shops, alles wird mitten in der Stadt verkauft. Ebenso mitten in der Stadt befindet sich das größte Gefängnis von Bolivien, San Pedro Prison, wie ich auf einer Stadtführung erfahre. Und dieses Gefängnis ist nicht irgendein Gefängnis, sondern ein ganz besonderes, nämlich eine eigene kleine Stadt, in der das Geld regiert. Die Gefangenen müssen dort alles kaufen, sogar ihre Zelle, können bzw. müssen arbeiten, je nachdem wieviel Geld sie besitzen und jeder Aufseher bis hin zum Gefängnisdirektor, der Polizei und Richter ist korrupt. Und jetzt das Beste: In diesen Mauern wird das beste Koks des Landes produziert und exportiert. Früher gab es Führungen für Touristen, die sich auch gern eine Line gezogen haben und dort mit den Insassen eine Party gefeiert haben. Irgendwann muss das Ganze so ausgeartet sein, dass die Regierung die Touristenführungen verboten hat. Im Buch „Marschpulver“ kann man Unglaubliches über diesen Knast lesen.
Unser Führer ist ein Showman, dessen Witze ich nicht lustig finde. Aber er weiß sehr viel und spricht verständlich englisch. Irgendwann frage ich ihn, ob er Aymare (ein großer indigener Stamm) wäre. „Oh ja“, antwortet er, „und ich bin sehr stolz darauf!“ Ich frage ihn nach dem Verhältnis zwischen seinem Volk und den Weißen, da bricht seine Fassade zusammen und unter Tränen erzählt er von den immer noch anhaltenden Repressalien.
Oscar nimmt mich in ein super Lokal mit, das „popular, das bolivianische Feinkost serviert. Wenn man an der Bar sitzt, kann man beim Anrichten der Speisen zusehen. Das Essen ist ein Augen- und Gaumenschmaus, mit viel Liebe und Kreativität zubereitet. Für drei Gänge inklusive Getränk bezahlen wir 9 Euro.





Beim Laufen durch die Stadt lande ich in einem herrlichen Markt. Auf der Führung erfahre ich später, dass jeder seine feste Marktfrau hat (die „Casera“), die nicht nur als Verkäuferin, sondern auch als Seelenklempnerin dient. Gehandelt wird hier nicht, aber bei Stammkunden gibt die Casera gern etwas dazu.


Mein erster Tag allein beginnt schleppend. Es ist bewölkt und ich vermisse Wolfgang. Aber nach fünf Tagen vergebens warten auf die Apostille will ich wieder auf die Straße. Mein Ziel ist Rurrenabaque, im Dschungel. Nach einer Stunde heftigem Berufsverkehr in La Paz wird es so neblig, dass ich keine 50 Meter mehr sehen kann. Plötzlich kommt mir ein LKW auf meiner Seite entgegen, ohne Licht! Eine Vollbremsung vermeidet einen Zusammenstoß, auch vor Baustellen, die natürlich auch nicht beleuchtet sind. Auf der Rückfahrt sehe ich die Scherben der Baustellenmarkierung. Hier muss jemand voll reingekracht sein. Ein LKW scheint die Orientierung verloren zu haben und liegt seitlich im Graben. Seine Ladung Bananen liegt auf dem Boden verteilt. Es fängt an zu regnen und es ist sehr kalt. So ein Kack, wäre ich doch mit dem Bus gefahren! Aber der Regen hört auf und als ich wieder Sicht habe, befinde ich mich in einer völlig anderen Landschaft. Wasserfälle stürzen von den Hängen, einige Wasserdurchfahrten sind zu meistern. Alles ist üppig grün, schwarze Geier kreisen in Scharen über mir. Einen ganzen Tag lang schraube ich mich die vielen Kurven durch den Regenwald. Nach einer herausfordernden Fahrt komme ich in Palos Blancos an und checke für drei Euro in einer einfachen Unterkunft ein. Die Vermieterin kann nicht fassen, dass ich allein mit dem Motorrad unterwegs bin und dass ich von Chile hierher gefahren bin. Sie schwankt zwischen Abneigung gegenüber einer westlichen, weißen Person und Faszination. Jeder Person, die vorbeikommt, erzählt sie diese Geschichte. Ich spaziere durch den Ort auf der Suche nach einem Restaurant mit Wifi, aber auch dort, wo es ausgeschildert ist, gibt es beides nicht. Ich kaufe mir eine ungefüllte Empanada (quasi ein Stück Brot) und zwei dicke Scheiben Wassermelone.


Die zweite Etappe nach Rurrenabaque ist weniger weit. Nachdem ich morgens mit einer Tanknadel losgefahren bin, die mehr als die Hälfte angezeigt hat, befindet sie sich bereits 120 Kilometer vor dem Ziel im roten Bereich. Das kenne ich schon. Die Tankanzeige der Royal Enfield ist nicht besonders zuverlässig. Eigentlich gar nicht, um genau zu sein. Nachdem ich die ersten 60 Kilometer noch relativ entspannt fahre, werde ich zunehmend nervöser, da ich mich mitten im Nirgendwo befinde. Ich bleibe stehen und klopfe gegen den Tank. Er klingt absolut hohl. Ich versuche, das Motorrad zu schütteln, um zu sehen, ob da noch was gluckert, aber es tut sich nichts. Ich schraube den Tank auf, stecke ein Stöckchen hinein, tatsächlich ist noch einiges drin und ich schaffe es bis nach Rurrenabaque. Dort checke ich in einem schönen Hotel mit Blick auf den Fluss ein. Leider sind die Besitzer sehr unfreundlich, aber ich lasse mir die Laune nicht verderben, ich weiß, dass es nichts mit mir persönlich zu tun hat. In drei verschiedenen Reisebüros informiere ich mich über die Ausflugsmöglichkeiten in dieser Gegend und entscheide mich für eine viertägige Dschungel- und Pampas-Tour. Am nächsten Morgen starten wir in den Dschungel. Mit einem laut knatternden Boot fahren wir eine Stunde flussaufwärts, wo wir bei einer Community, die dort lebt, lernen, wie man Kakaobohnen röstet und mahlt und Schokolade herstellt, um sie mit Bananen zu verspeisen und wie man Zuckerrohr presst und daraus Saft gewinnt.


Es sind 3 Gruppen dieses Reiseveranstalters vor Ort. Mir fällt auf, dass ich die einzige Person über 30 bin. Die anderen sind lauter junge Rucksacktouristen. In meiner Gruppe befinden sich ein nettes französisches Pärchen, eine Engländerin, die seit dreieinhalb Jahren unterwegs ist und anscheinend bereits überall auf der Welt gelebt und gearbeitet hat, sowie ein junger Franzose, den ich etwas merkwürdig finde. Nach dem Mittagessen packen wir unseren Rucksack. Mir war nicht klar, dass wir neben unseren persönlichen Sachen eine Matte, ein Moskitonetz, eine Decke, sowie Wasser und Lebensmittel tragen müssen. Der Rucksack ist schwer und zieht an meinen Schultern. Auch war mir nicht bewusst, dass der Dschungel steil bergauf und bergab geht. Keine Ahnung, was ich mir eigentlich vorgestellt habe. Ist ja logisch, dass es nicht ebenerdig dahin geht. Vier Stunden wandern wir bei schwüler Hitze bergauf und bergab. Die jungen Leute schlagen ein strammes Tempo an, ich muss mich anstrengen, aber ich schaffe es. Moskitos attackieren uns. Dann erreichen wir unseren Übernachtungsplatz.



Als erstes springe ich in den Bach, es ist herrlich!
Ich war schon einige Male in meinem Leben im Dschungel, aber noch nie in der Nacht. Die schönste Zeit ist, wenn die Sonne auf- oder untergeht, dann erwacht der Dschungel zum Leben. Die Tierstimmen sind richtig laut, es ist ein unglaubliches Konzert. Beim Nachtspaziergang entdecken wir zwei große Taranteln in einem Baum. Ich bin ungerührt. Solange die nicht in meinem Schlafsack auftauchen. Für die Nacht haben wir nur eine Art Tarp über dem Kopf, darunter sind die Moskitonetze gespannt. Über meinem Kopf hat das Tarp ein Loch. Hoffentlich regnet es nicht, denn dann sind wir am Arsch. Auf dem unebenen, harten Boden schläft es sich schlecht, aber egal, es ist toll, den Geräuschen zu lauschen.

Auch der Ausflug in die Pampas ist interessant. Mit dem Boot fahren wir vier Stunden einen Fluss entlang, in dem es vor Alligatoren, Kaimanen, Affen, Schildkröten, und bunten Vögeln nur so wimmelt. Am besten gefallen mir die Capybaras, Wasserschweine, die sind so süß.




Eigentlich habe ich diese Tour gebucht, um mit den rosafarbenen Delfinen zu schwimmen, damit hatten die Reisebüros in La Paz geworben. Tatsächlich sehen wir Delfine, wirklich rosa sind sie nicht (den rosafarbenen Schimmer bekommen sie erst in einem höheren Alter), und in diesem dreckigen Gebräu zu schwimmen ist nicht wirklich einladend, von den herumlungernden Krokodilen mal ganz abgesehen. Ein junger Kerl springt trotzdem rein, ich glaub´s nicht! Die Nachtfahrt mit dem Boot ist herrlich. Die nachtaktiven Tiere zu beobachten, macht viel Freude und das Geräusch eines ins Wasser platschenden Krokodils ist aufregend!
Interessant ist auch, die Reiseweise der Rucksacktouristen kennen zu lernen. Sie fahren mit dem Bus von A nach B und während der Fahrt schlafen sie meistens. Sie verbringen ihre Zeit unter ihresgleichen an Orten, die im Reiseführer stehen und das ist in Ordnung so. Für mich ist der Weg das Ziel, und so toll diese vier Tage waren, freue ich mich doch wieder sehr auf meine Olivia, das Unterwegssein und die Menschen und Landschaften auf der Straße zwischen A und B.
Der auf das Dach prasselnde Regen weckt mich auf. Ach, wie schön! Ich denke an Julian, der dieses Geräusch so liebt und kuschle mich in meine dünne Decke. Ach scheiße! Ist mein zweiter Gedanke. Die Straße nach la Paz hatte bereits beim Herfahren eine tiefe Wasserdurchfahrt und ist nun vielleicht nicht mehr passierbar. Sei´s drum, ich kann es eh nicht ändern, akzeptiere ich die Gegebenheit und mache nochmal die Augen zu. Es schüttet wie verrückt bis 12 Uhr mittags, ich muss an die Leute denken, die heute im Dschungel übernachtet haben, die Armen! Dann lichten sich die dunklen Wolken und es hört auf. Wenn ich jetzt einen vollen Tank hätte, könnte ich losfahren, habe ich aber nicht. Oscar hatte mir über eine Bekannte, Kleidy hier in Rurrenabaque 20 Liter Benzin zugesichert, sie gab mir aber nur fünf Flaschen mit jeweils zwei Litern, insgesamt also zehn Liter, was nicht reicht, um zurück nach La Paz zu kommen. Die Versorgung mit Benzin ist immer noch schlecht und ich habe keine Lust, mich einen halben Tag in die Schlange einer Tankstelle einzureihen. Da ich aufgrund des Regens immer noch da bin, melde ich mich nochmal bei ihr und sie sichert mir zu, um 14 Uhr drei weitere Flaschen zu bekommen. Die Uhr der Bolivianer geht nicht so genau und so wird es 15 Uhr, bis ich das Benzin bekomme und mit einem vollen Tank und einer Extraflasche losfahren kann. Ich weiß bereits, dass ich in der Dunkelheit ankommen werde, aber ich werde mit Sonnenschein belohnt und einigen Erlebnissen, die für mich das Reisen ausmachen und viel wertvoller sind als die sogenannten touristischen Hotspots: ich lerne die Menschen vor Ort kennen. Nach gut der Hälfte der Strecke mache ich im selben Café Rast wie schon bei der Hinfahrt. Ein netter Lastwagenfahrer begrüßt mich mit einem herzlichen Lächeln und versucht, ein Gespräch mit mir, das mangels meiner Spanischkenntnisse leider recht schnell vorbei ist. Ich bestelle das Gericht, das er mir empfohlen hat und wir prosten uns zu. Lateinamerikanische Musik schallt aus dem Lautsprecher, ich bin glücklich. Als er wegfährt, sehe ich den Ladekran auf seinem LKW und weiß, dass dieser Mann ein Gruß meines Papas war, der zuletzt auch so einen LKW hatte. Ich bin nicht allein, scheint er mir sagen zu wollen, er ist die ganze Zeit bei mir. Ich muss auch los, es ist schon 18 Uhr, in einer Stunde wird es dunkel und ich habe noch knapp zwei Stunden vor mir. Nach zwanzig Minuten hole ich ihn ein, wir grüßen uns und lachen. Eine kurze, aber schöne Begegnung, die mir nach den letzten Tagen mit teilweise schwierigen Menschen guttut. Die Landschaft ist atemberaubend, aber ich habe keine Zeit, um stehen zu bleiben. Es wird schneller dunkel, als ich gedacht habe und kurz kommt mir der Gedanke, dass ich am Arsch bin, wenn ich jetzt einen Platten habe. Doch dann fällt mir der LKW-Fahrer ein und ich weiß, dass ich auf jeden Fall Hilfe hätte. Es ist stockdunkel, als ich in Palos Blancos ankomme und auf ein im Navi gespeichertes, empfohlenes Hotel zufahre. Das Hotel sieht gut aus, aber die sehr laute Musik im Restaurant, in dem ein Tisch besetzt ist, schreckt mich ab. Egal, das Zimmer ist viel einladender, als das, das ich zuletzt in diesem Ort hatte und die Wirtin ebenso. Ich hole mein Gepäck vom Motorrad und auf dem Weg in mein Zimmer winkt mich eine junge Frau an den mit vier Bolivianern besetzten Tisch. Auf dem Tisch steht eine Plastiktüte mit lauter leeren Bierdosen, zwei Männern hat es bereits den Schalter gezogen.

Sie schlafen am Tisch, einer im Sitzen, der andere mit dem Kopf auf dem Tisch, ein Bild für Götter. Der dritte Mann spricht mich immer mal wieder mit demselben Satz auf Französisch an, einzig die Frau ist noch in der Lage für einen netten Austausch mit Hilfe des Google Translators. Am nächsten Morgen packe ich mein Gepäck aufs Motorrad, neben mir tankt ein Bolivianer aus einem riesigen Kanister sein Auto und fragt mich, ob ich auch Benzin brauche.

Da sage ich nicht nein. Ich darf ihm nichts für das Benzin bezahlen und der nette Herr empfiehlt mir noch den Karneval von Oruro, den größten traditionellen Karneval der Welt. Auf dem Weg nach La Paz lege ich eine Pause in Caranavi ein, einer sehr hässlichen Stadt und auch mein Essen ist leider kaum genießbar. Ich nehme ein paar Happen zu mir und gebe den Rest der Katze, die sich sichtlich freut. Die Fahrt ist weit, die letzten beiden Stunden verbringe ich frierend im Regen. Das trostlose El Alto wirkt im Regen gleich noch viel trostloser und auch La Paz, das ich im Sonnenschein sehr mochte, kann mich nicht so recht mehr gewinnen. Als die Stadt auch am nächsten Morgen noch in Wolken hängt, will ich weg, nach Chile, in wärmeres und sonniges Gefilde. Ich verabschiede mich von Oscar, meinem wundervollen Gastgeber. Natürlich hat er meine Olivia vorher noch vollgetankt und den Reifendruck geprüft und mich mit Bargeld versorgt, ohne dass ich meine Rechnung bezahlen konnte. Die Überweisung der Dollars auf sein amerikanisches Konto (eine Win-Win-Situation für uns beide: ich bekomme einen viel besseren Kurs, als wenn ich mich Kreditkarte bezahle und er US-Dollar) klappt nicht, weil meine Bank der Meinung ist, dass bei seiner BIC eine Nummer fehlt. Komisch nur, dass diese Nummer bei den anderen Gästen funktioniert. So warte ich noch auf die Antwort des Bankfuzzis und derweil lässt mich Oscar, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken ziehen. Der Abschied ist emotional, wir sind uns wirklich ans Herz gewachsen. Dick eingepackt verlasse ich meinen bolivianischen Freund und bringe die heruntergekommenen Vororte von La Paz hinter mich. Und dann hat sie mich wieder, die vermüllte und öde Landschaft, in der es verbrannt riecht. Nach einer Zeit wird die Landschaft schöner und auch meine Freunde, die Lamas und Alpakas grasen friedlich am Straßenrand. Nach zwei Stunden bin ich fast allein unterwegs, nur ein LKW ist ab und an zu sehen. Laut Olivias Thermometer hat es um die 20 Grad. Wie kann man bei 20 Grad so frieren? Ein in der Schweiz lebender Marokkaner, ebenfalls Gast bei Oscar hatte mir einen Tipp für eine Übernachtung in einem Nationalpark kurz vor der chilenischen Grenze gegeben. Ein Schotterweg sollte die letzten 11 Kilometer rechts abgehen. Hier ist die Abzweigung, doch die Sicht ist schlecht geworden, mein Motorrad schlingert, weil da ist auch mein Freund der Sand wieder. Keine Sicht, tiefer Sand, ich bin allein – drei Aspekte, die nicht gerade Ziel führend sind. Ich drehe wieder um. Plötzlich fängt es an zu hageln, die Hagelkörner liegen wie Schnee auf dem Boden. Innerhalb von wenigen Minuten bin ich patschnass und total durchgefroren. Ich beschließe, zur Grenze zu fahren und mich dort unterzustellen, doch das ganze Grenzgebiet ist unüberschaubar verwirrend, außerdem sehe ich keine Grenzbeamten. Ich brauche dringend eine Unterkunft, ich kann meine Finger kaum noch bewegen, so kalt ist mir. Ich drehe um, finde vor der Grenze ein kleines Restaurant, in dem ich mich vor dem Hendl-Ofen aufwärmen kann. Für drei Euro haben sie auch ein Zimmer für mich, das ich dankend annehme. Hoffentlich ist morgen besseres Wetter.

Auf 4350 Metern Höhe bekomme ich in der Nacht kaum ein Auge zu, das kenne ich schon. Zumindest der Regen hat aufgehört. Die Grenze ist die unorganisierteste, die ich in meinem Leben erlebt habe. Kaum Schilder, die einem zeigen, wo man hinfahren muss, und wenn, dann sind sie falsch. Ich soll also zum Schild Busse fahren. Alles klar. Danach muss ich mein ganzes Gepäck abmontieren und durch einen Scanner schieben. Die Mango, die mir ein Brasilianer geschenkt hat, darf ich nicht mit nach Chile nehmen. Ich esse sie frierend an der Grenze. Von knapp 5000 Metern fahre ich runter zum Pazifik. Es geht vorbei an Schnee bedeckten Vulkanen, Mond ähnlichen Landschaften, über den hübschen Ort Putre und zwei Baustellen, an denen ich lange warten muss, bis hinunter an den Pazifik. In Arica angekommen merke ich, dass ich in einer völlig anderen Welt bin.


Von Marion: Die dritte Reisewoche – Okt24
Ollague – Uyuni – Salinas de Garci Mendoca – Potosi – Sucre
Die Bergarbeiter starten um 7.00 mit ihrem alten LKW, es hat 0 Grad. Wir brechen gegen neun Uhr auf, es ist immer noch recht frisch. Da die Versorgungslage in Bolivien vor allem mit Benzin schlecht zu sein scheint, haben wir uns mit Kanistern ausgerüstet. Also nochmal 5 bzw. bei Wolfgang 13 Kilo mehr Gewicht. An der Grenze brauchen wir diesmal viel Zeit, aber ich kann einreisen. Hurra! Willkommen in Bolivien! Und dieses Land ist ganz anders. War die Straße auf der chilenischen Seite noch geteert, ist sie auf der bolivianischen Seite zunächst Schotter. Die LKWs preschen an uns vorbei und wirbeln so viel Staub auf, dass wir in einer Wolke versinken und für einen kurzen Moment nichts sehen.

Nach einer Weile entdecken wir, dass eine Straße geteert wurde, sie ist aber noch gesperrt. Die Alternative ist eine sehr sandige Passage. Egal, wir fahren durch die Absperrhütchen und genießen den neuen Bodenbelag. Plötzlich sehen wir Bauarbeiter in der Ferne. Mit schlechtem Gewissen bleiben wir verunsichert stehen und überlegen, ob wir umkehren sollen. Da winkt uns ein Bauarbeiter und wir können durchfahren, sie nicken uns freundlich zu. Wow, wie nett! Bei uns daheim hätten sie uns wahrscheinlich zusammengeschissen. „Da ist doch nicht zum Spaß gesperrt“ hätten sie genervt gerufen, oder irgendwas in der Art, womit sie ja auch recht gehabt hätten. Der Rest der Strecke ist dann zum großen Teil geteert, bis auf einige sandige Abschnitte, die einmal eine große Herausforderung darstellen, als drei LKWs entgegenkommen und man praktisch nichts mehr sieht. Ich bleibe stehen, bis sich der Staub gelegt hat, stecke damit zwar im Sand fest, schaffe es aber, mit Andres Tipps wieder herauszukommen.
Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas und zugleich auch das mit der höchsten indigenen Bevölkerung. Uyuni gehört zu den hässlichsten Orten, die ich in meinem Leben gesehen habe, und ganz sicher ist sie die staubigste Stadt, die ich bereist habe, da die meisten Straßen aus Sand bestehen. Ich habe noch nie so einen staubigen Ort gesehen. Dennoch herrscht tagsüber eine fröhliche Atmosphäre vor unserem Hostal, weil schräg gegenüber laute Salsamusik erschallt. Zum Abendessen lasse ich meine Motorradkluft an, weil sowieso alles staubig ist bzw. wird. In unserem Hostal sind die Zimmer aus Salz, was originell, aber auch unpraktisch ist. Der Boden besteht aus Salzkristallen, am wohlsten fühle ich mich hier mit meinen Motorradstiefeln. Unsere Motorräder haben wir über eine hohe Schwelle mit vereinten Kräften in den schmalen Flur gefahren, ich bin gespannt, wie wir die morgen rausbekommen. Die Menschen sind noch kleiner als in Chile und Argentinien, einige Frauen sind farbenprächtig gekleidet mit dicken, weiten (oder mehreren?) Röcken. Unterkunft, Sprit und Essen – alles ist unglaublich billig. Auch hier, wie bereits in Chile und Argentinien läuft in Gemeinschaftsräumen der Fernseher. Wenn man Glück hat, dann erfährt man etwas über kulturelle Besonderheiten des Landes wie Musik und Tänze. Oft aber läuft Fußball, Werbung oder irgendein Scheiß, wie eine Soap mit lauter westlich aussehenden, reichen Menschen.
Ein Traum erfüllt sich. Über den Salar de Uyuni, 3660 Meter hoch gelegen, die größte Salzpfanne der Erde zu fahren ist einfach grandios. Der Untergrund, getrocknetes Salz ist fest und außer am Eingang des Salars gibt es keine Löcher, nur Erhebungen, aber über die kann man locker drüberfahren. Wir düsen mit 100 km/h über diese Salzpfanne, es ist wie Fliegen! Weiße, meist sechseckige Salzkacheln, soweit das Auge reicht. Irgendwann sehen wir von Weitem dunkle Flecken. Was kann das sein? Der mittlere ist Incahuasi, eine Kakteen-Insel, inmitten dieser riesigen Salzpfanne! Hier machen wir Pause und beim kurzen Nap bekommen wir beide dasselbe Problem: Wir wachen immer wieder auf, weil wir keine Luft bekommen und das Herz pocht. Das kenne ich vom Schlafen in großen Höhen aus Tadschikistan, auf dieser Reise hatte ich es noch nicht, obwohl wir ständig zwischen 3500 und 3800 Metern sind. Zum Glück, das ist sehr unangenehm! Wir fahren zur „Plaza de las Banderas“, einem Dakar-Monument und wenn man sich die verschiedenen Flaggen, ansieht, die kraftvoll im Wind wehen, weiß man, dass sich hier Reisende aus der ganzen Welt treffen. Von 2009 bis 2019 wurde die Rallye Dakar wegen Terrordrohungen von Afrika nach Südamerika verlegt und seit 2020 findet sie in Saudi-Arabien statt. Auf der Rückfahrt machen wir am Salzhotel halt, das mit einem Stern als Sehenswürdigkeit in der Karte eingezeichnet ist. Ich bin enttäuscht. Nachdem ich in Norwegen mal ein Eishotel besucht hatte, in dem alles, ja wirklich von den Wänden hin zu Tischen, Stühlen und Betten aus Eis gebaut war, hatte ich mir das hier so mit Salz vorgestellt. Weit gefehlt, angeblich sind die Wände aus Salz, aber das ist kaum zu erkennen. In der Bar ist außer uns eine deutsche Familie. Ein schönes Hotel, aber Land und Leute lernt man hier nicht kennen.
Dass Bolivien zu den ärmsten und strukturschwächsten Ländern Südamerikas zählt, ist unschwer zu erkennen. Als wir nach unserem Ausflug zur Tankstelle fahren, finden wir eine Schlange von ca. 50 Autos vor, die alle Sprit brauchen und die wir vorsichtig überholen. Ganz nach vorne trauen wir uns nicht, reihen uns an Nummer 4 ein, und Wolfgang, der mit allen immer gleich in einem Mischmasch aus Deutsch, Englisch und Spanisch nett quatscht, schafft es, dass uns die beiden Autos vor uns vorlassen. Man stelle sich das in Deutschland vor: Nach stundenlangem Warten auf Benzin kommen zwei Ausländer auf ihren Super-Motorrädern und wir lassen sie mit einem Lächeln und einem „Daumen-hoch“ vor. Undenkbar, aber für uns ein schöner Abschluss eines herrlichen Tages.
Ansonsten merkt man, dass es hier in Bolivien eine große Schere zwischen Arm und Reich gibt. Die Indigenen, die immerhin zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen, haben ein schweres Leben und sind den Weißen -verständlicherweise- nicht immer wohl gesonnen, was man merkt, wenn die Personen, mit denen man zu tun hat, manchmal kühl und distanziert wirken. Aber auch hier: Man stelle sich vor, Latinos würden Deutschland überfallen und uns ihre Sprache und Kultur aufzwingen und uns nebenbei ganz selbstverständlich zu Hilfsarbeitern machen. Auch das ist undenkbar.
Weil wir auf dem Salar so viel Spaß hatten, befahren wir ihn am nächsten Tag nochmal. Diesmal aber mit Gepäck und Incahuasiverlassen wir Richtung Norden. Es ist der erste Tag, seit wir unterwegs sind, an dem es bewölkt ist, und die Salzpfanne sieht gleich ganz anders aus. Als wir im Norden aus dem Salar rausfahren wollen, bleibe ich im Salz stecken, das sich hier am Ufer mit etwas Wasser mischt. Wolfgang hilft mir heraus und weiter geht´s. Wir fahren auf einem rumpeligen und steilen Weg einen Berg hoch, um uns Mumien anzusehen und genießen einen herrlichen Blick über den riesigen Salar de Uyuni. Wir sind auf 4000 Metern, jeder Schritt ist anstrengend. Auf der Weiterfahrt sehen wir bei einem Fußballturnier junger Mädchen verschiedenen Alters statt. Wir sind erstaunt über die Menge von Zuschauern und beobachten das Treiben. Das Dorf besteht ausschließlich aus Indios, wir sind die einzigen Weißen. Ein Mann grüßt uns freundlich, von den restlichen Personen werden wir ignoriert.
Ich bin erschrocken, wie arm dieses Land ist. Überall liegt Müll herum und abrissreife Häuser verschandeln das Landschaftsbild. Am Abend finden wir in Salinas de Garci Mendoca nur zwei „Restaurants“, die offen haben. Aus dem einen zieht ein widerlicher Geruch von altem Frittenfett, das andere ist voll besetzt. Das Abendessen, das serviert wird, ist nichts anderes als Junkfood. Pommes, frittiertes Fleisch, Mayo, kein Wunder, dass viele Bolivianer dick sind. Es gibt nur Cola und Sprite, kein Wasser, keinen Tee. Die Gesichter der Menschen sind aber so interessant, dass man sich kaum sattsehen kann.
Am Morgen verlassen wir reichlich spät und etwas unmotiviert diesen merkwürdigen Ort. Wir versuchen noch zu tanken, bekommen aber kein Benzin. Den Grund verstehen wir nicht. Egal, wir haben noch genug Sprit zu unserem heutigen Ziel, Challapata, nicht weit entfernt. Der Weg dorthin ist öde. Bis auf einen vielfarbigen Krater gibt es nichts zu sehen, nur Sand, Steine, Müll und trostlose kleine Dörfer. In Challapata angekommen fahren wir drei Tankstellen an. Die erste verkauft nur Gas, die zweite kann oder will ihr System nicht ändern. Dazu muss man wissen, dass Touristen in Bolivien mehr bezahlen müssen als Einheimische und der Tankwart muss dazu an der Tanksäule einen anderen Preis einstellen. Die dritte Tankstelle verkauft nur Diesel. An jeder Tankstelle steht mindestens ein Mann in Militärsuniform und langweilt sich wahrscheinlich zu Tode. „Was ist das für ein Land, das seine Bürger nicht ausreichend mit Benzin versorgen kann und an jeder Tanke Militär braucht?“, fragt Wolfgang. Während ich auf Google Maps die verschiedenen Tankstellen suche, entdeckt Wolfgang ein paar Frauen, die mit Kanistern mit Benzin am Straßenrand sitzen. Sie kaufen das Benzin zum günstigen Preis für Einheimische ein und verkaufen es zum höheren, aber für uns immer noch günstigen Preis (unter einem Euro) weiter. Wir füllen alle Tanks und Kanister auf und haben viel Spaß mit der netten Bolivianerin.

Die Restaurants, die in Google Maps eingezeichnet sind, haben geschlossen. Wir steuern eine Imbissbude an, wo wir draußen sitzen können, und unsere Motorräder sehen. Innendrin plärrt der Fernseher auf voller Lautstärke. Es läuft eine Soap, in der Schauspieler mimisch so übertreiben, dass es schon wieder lustig ist. Wir bekommen gegrilltes Hühnchen mit Reis, Nudeln und Pommes, zwei riesige Portionen. Es dauert nicht lange, da kommt der erste Hund, der geduldig auf unser Essen schaut. Er erinnert mich an Janosch, der auch immer so nett auf unser Essen starrt. Zwei weitere kommen hinzu und wir teilen die Reste unter ihnen auf.
Wir sehen uns den Ort an, der so gar nichts hat, um dort zu bleiben, und überlegen, ob wir weiterfahren nach Potosi. Die Strecke dorthin und die Stadt sollen schön sein. Irgendwie mag ich mich nicht damit abfinden, dass das, was wir heute gesehen haben, repräsentativ für Bolivien sein soll. Es ist schon drei Uhr nachmittags und die Fahrt nach Potosi dauert laut Navi knappe vier Stunden. Egal, wir können sicher unterwegs irgendwo übernachten, sagt mein Optimismus, auch wenn die Karte etwas ganz anderes zeigt. Wir fahren los und es fängt an zu tröpfeln. Vor drei Stunden in der trockenen Wüste hätte ich nie gedacht, dass es heute noch regnen würde, aber tatsächlich hängen dunkle Wolken über den Bergen. Doch wir haben Glück, denn der Wettergott ist uns hold und der Regen macht die ganze Fahrt über einen kleinen Bogen um uns herum. Es blitzt in der Ferne, die Straßen sind immer wieder nass, aber wir bleiben trocken. Die Landschaft ist herrlich, grün, anders als in Argentinien und Chile und wir kommen gut voran. Aber dann passiert etwas, womit wir nicht gerechnet haben: Wir geraten in drei Straßenblockaden. Natürlich hatten wir von den Straßensperren gehört und kennen auch die Internetseite, auf der sie angezeigt werden, haben die aktuelle Lage aber nicht mehr kontrolliert. Zunächst liegen Steine auf der Straße, dann ein Erdwall, auf dem wir seitlich vorbeifahren können. Schließlich stehen mehrere Männer auf der Fahrbahn und stoppen uns. Sie machen nicht gerade einen seriösen Eindruck, um es positiv zu formulieren. Auf dem Hügel seitlich steht ein Mann, schwingt eine Art Steinschleuder und sieht bedrohlich drein. Wir erklären, dass wir Touristen seien und als klar ist, dass wir keine „Americanos“ sind, lassen sie uns passieren. Eine halbe Stunde später die zweite Blockade. Wir überholen eine riesige Schlange an Autos und LKWs und als wir uns freuen, so gut durchgekommen zu sein, stoppt uns eine Gruppe von Männern. Auch sie sehen aus, als würden sie zum Rest des Restes einer Gesellschaft gehören und eine Mischung aus Wut und Mitgefühl macht sich in mir breit. Während ich versuche, mit ihnen zu verhandeln, fällt mir ein, dass ich noch eine Bierdose von Wolfgang im Gepäck habe. Ich krame sie heraus, gebe sie einem der Männer, wir lachen noch gemeinsam und fahren weiter. „Geschafft!“, so denken wir, doch zu früh gefreut, denn da kommt Sperre Nummer drei und diese Männer sind zahlenmäßig mehr und zum Teil aggressiv. Einer versucht, das Ventil meines Vorderreifens aufzudrehen, ein anderer hantiert mit einem Stein an meinem Vorderrad. Wir drehen um und beratschlagen uns. Wolfgang hat inzwischen keinen Bock mehr auf dieses Land. Erst die Tankmisere und nun diese bescheuerten Blockaden. Ich erkläre ihm, dass es keinen Sinn macht, jetzt umzudrehen, da wir dann die beiden anderen Straßensperren wieder vor uns hätten. Wir sitzen inmitten dieser dämlichen Blockaden fest. Ohne Unterkunft. Zwischenzeitlich hat sich gezeigt, dass die Vorstellung, auf dieser Strecke irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden, sehr naiv war. Wir müssen nach Potosi, und hierfür müssen wir diese Blockade überwinden. Ich schlage vor, ihnen Geld zu geben und es funktioniert. Sie lassen uns durch und zum Glück kommt keine weitere Straßensperre. Wir sind völlig allein auf der Straße. Gelegentlich halten wir an, um die wunderschöne Landschaft zu bestaunen, als ein Bolivianer auf uns zukommt und fragt, wie wir die Blockaden passieren konnten. Ich sage nur: „Cerveza“ und er schaut ungläubig drein.

Es ist bereits dunkel, als wir in Potosi ankommen, und diese Stadt fordert uns auch nochmal heftig heraus. Steile Bergauffahrten, löchrige Straßen, unbeleuchtete Fahrzeuge, heftiger Verkehr und ein Navi, das uns falsch herum in Einbahnstraßen schickt. Doch die Bolivianer nehmen´sgelassen und irgendwann haben wir eine tolle Unterkunft gefunden: Eine wunderschöne Anlage um einen herrlichen Innenhof herum angelegt, mit allem Luxus der Zivilisation. Auch die Stadt macht einen lebendigen und modernen Eindruck, wir essen in einem tollenRestaurant. Größer könnte der Unterschied zum Vormittag nicht sein.
Potosis Innenstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe, also wollen wir natürlich diese Stadt besichtigen. Nach zwei Stunden sind wir total erledigt. Potosi ist nämlich mit 4065 Metern Höhe nach La Paz die zweithöchstgelegene Stadt der Welt, die Straßen gehen bergauf und bergab und der Qualm der alten Busse erschwert das Atmen zusätzlich. Wir fühlen uns wie 90, selbst die Treppen in den ersten Stock unserer Unterkunft bringen uns zum Schnaufen. Wir müssen langsamer gehen und immer wieder Pausen einlegen.
Am Nachmittag besuchen wir die Silbermine, die Potosi im 17. Jahrhundert zur bedeutsamsten Stadt in ganz Amerika gemacht hat, und in der zur Kolonialzeit 8 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Unser Guide zeigt uns, wie man Dynamit zündet. In Potosi kann jeder legal Dynamit kaufen. Wir bekommen Hose, Jacke, Gummistiefel und einen Helm mit Stirnlampe, alles sehr nützliche Dinge, wie sich später herausstellt. Als wir uns der Mine nähern, ertönt plötzlich ein furchtbar lauter Knall. „Eine Explosion“, ist mein erster Gedanke, aber es war „nur“ der Blitz eines Gewitters, der gerade eingeschlagen hat. Wassermassen stürzen vom Himmel und verwandeln innerhalb kürzester Zeit die Straße in einen Fluss. In der Mine gibt es weder Licht noch Sauerstoff. Wenn die Minenarbeiter Sauerstoff benötigen, müssen sie extra dafür bezahlen. Der Boden ist matschig, das Wasser des Regens läuft hinein. Die Decke ist tief, immer wieder müssen wir uns bücken und den Kopf einziehen. Zweimal haue ich mir den Kopf an. Die Loren, die sie zu zweit durch den Berg schieben, wiegen beladen eine Tonne. Einer der Männer unserer Gruppe versucht eine Lore zu bewegen, er schafft keinen Zentimeter. Immer wieder müssen wir uns schnell an die Wand drücken, wenn zwei Minenarbeiter mit einer Lore angelaufen kommen, denn der Stollen ist sehr eng. Ich bin fassungslos. Ich bekomme kaum Luft und diese beiden Männer laufen durch den Stollen, auf über 4000 Metern, ohne Maske durch den Staub und schieben dabei eine tonnenschwere Lore. Für jede voll beladene Lore, die sie nach draußen schaffen, erhalten sie 50 Bolivianos, das sind umgerechnet 7 Euro, die sie sich teilen müssen. Wir fragen nach Kinderarbeit. Gesetzlich sei es verboten, dass unter 18-Jährige in der Mine arbeiten, aber es käme schon mal vor, dass ein 16- oder 17-Jähriger in der Mine arbeitet. Unser Guide erzählt von einem Fall, in dem der Vater in der Mine umgekommen ist und der älteste Sohn der Familie nun dort arbeitet, um die Mutter und die drei kleinen Geschwister zu versorgen. Vor Beginn der Führung hat jeder von uns etwas gekauft, das wir den Minenarbeitern, denen wir begegnen in die Hand drücken oder auf die Lore legen. Coca-Blätter, Alkohol, Dynamit, Zigaretten, eine Flasche Fanta. Ich habe mich für Coca-Blätter entschieden, die sie in den Backen belassen, um Energie zu haben. Sie arbeiten zwischen sechs und acht Stunden und dürfen kein Essen mitnehmen. Wir lernen die verschiedenen Arbeiten der Minenarbeiter kennen. Die Sprengmeister bohren Löcher in die Wand, stecken Dynamit in die Löcher und sprengen den Fels. Es kommt vor, dass zehn Dynamitstangen gezündet werden, aber nur neunmal ein Knall ertönt. Dann heißt es warten und eventuell suchen. Ein sehr gefährlicher Job. Von 12000 Arbeitern verlieren auch heute noch zwischen 70 und 80 Arbeiter jährlich in der Mine ihr Leben. Um zu sehen, wie ein Arbeiter einen Kessel Gestein ausleert, klettern wir eine matschige Leiter hoch und sollen auf einen rutschigen Balken balancieren, ohne Seil, um sich irgendwo festzuhalten, ohne Sicherung. Unter dem Balken geht es runter in die Tiefe. Ich bin nicht sicher, wie tief, weil es ja dunkel ist. Bei der Leiter bin ich noch mit dabei, den Balken lasse ich aus. Ich habe nicht meinen Gehirntumor überlebt, um jetzt von diesem glitschigen Balken zu stürzen. Nach ca. zwei Stunden in der Mine bin ich erleichtert, wieder draußen zu sein. Am Eingang hängen schmutzige Felle von Lamas. Das wären Opfergaben, um wieder heil herauszukommen, erklärt der Guide. Die ganze Gegend um diese Mine ist trostlos und vermüllt. Eine Mutter kauert mit ihren Kindern neben einer armseligen Bude zwischen Abfall und Gestein und zertrümmert mit einem Hammer Gesteinsbrocken auf der Suche nach Zinn.
Am Abend sitzen wir im Restaurant und ich denke an die Minenarbeiter, die so hart schuften müssen. Wo werden sie jetzt sitzen? Was werden sie essen? Ich weiß jetzt, was mit der großen Schere zwischen Arm und Reich gemeint ist, und bin dankbar, dass wir so eine schöne Arbeit haben und es uns so gut geht.
Irgendwie werden wir mit Bolivien nicht so recht warm. Was mir aber von Anfang an gefällt, sind die typischen Kleider der Frauen. Viele, vor allem ältere Frauen tragen farbenfrohe Faltenröcke, gestrickte Strümpfe in Riemchensandalen, verschiedenfarbige Pullover, einen Poncho und ein Hut thront auf den beiden geflochtenen Zöpfen. So tippeln sie von dannen. Ihre Hüften sind erstaunlich breit, oder tragen sie mehrere Röcke übereinander? Es sind überwiegend die älteren Frauen, die sich so kleiden, während die jüngeren so gekleidet sind wie wir. Wer weiß, ob man diese Kleidung in 20 Jahren noch oft in der Öffentlichkeit sieht? Ein interessantes Bild ergibt eine traditionell gekleidete Frau mit einem Handy in der Hand.
Wir sind in Sucre, der konstitutionellen Hauptstadt Boliviens, bekannt für seine weißen Häuser. Diese, überwiegend Regierungsgebäude und Universitäten (in die man leider nicht rein darf, sie werden streng von der Polizei bewacht) sind tatsächlich sehr schön, sind aber auf einen kleinen Bereich konzentriert, und haben mit dem armen Bolivien, das wir kennen gelernt haben nichts gemeinsam. In Erwartung eines gemütlichen Stadtbummels starten wir los. Zwei Blocks später hören wir mehrere Schüsse bzw. laute Knallgeräusche. Wir landen mitten in einer Demonstration. Auf den Plakaten steht: „Wir fordern eine Versorgung mit Diesel!“ „Wir fordern, dass die Blockaden aufgehoben werden!“ „Genug von der Unfähigkeit der Regierung!“ Menschen, die mit ihrem Auto oder Lastwagen Geld verdienen, solidarisieren sich und gehen auf die Straße. Die lauten Geräusche sind Knallkörper, um auf sich aufmerksam zu machen. Da fällt mir wieder Wolfgangs Frage ein: „Was ist das für ein Land, das sein Volk nicht mit Diesel versorgen kann?“


Von Marion: Die zweite Reisewoche – Okt24
San Antonio des los Cobres – Susques – San Pedro de Atacama – Chiu-Chiu – Ollagüe
Es geht über den Abra El Acay, einen knapp 5000 Meter hohen Schotterpass – was für ein Abenteuer! Ein Brasilianer hatte uns abgeraten. Der Pass sei gesperrt, in ganz schlechtem Zustand, die Straße teilweise eingebrochen, 16 Flussdurchquerungen, die Höhe, zu gefährlich … Ich frage ihn, ob er den Pass selbst gefahren ist oder das gehört hat. Er hätte zahlreiche Videos auf Youtube darüber gesehen. Aha. Das heißt erst mal gar nichts. Wir fragen vor Ort einen Guide, welcher bestätigt, dass der Pass für Autos nicht passierbar wäre, für Motorräder aber schon. Wir versuchen es und es wird ein absoluter Traumtag. Nachdem ich heuer so viele schöne Reisen erlebt habe, habe ich mir schon ein wenig Gedanken gemacht, ob mich Südamerika noch wird begeistern können. Und jetzt fahren wir seit 10 Tagen von einem landschaftlichen Höhepunkt zum nächsten. Heute jedoch ist das absolute Highlight. Wir treffen den ganzen Tag auf eine Handvoll Motorradfahrer, ansonsten wundervolle Einsamkeit. Waren wir die letzten Tage bereits fast allein, scheint dieser Pass heute uns zu gehören. Tatsächlich bricht die Straße manchmal weg und man fährt auf einem schiefen und holprigen Weg weiter und es gibt wirklich eine Menge Flussdurchquerungen, und einige davon sind nicht ohne, aber ich habe selten so eine magische Landschaft erlebt. Anfangs ist die Straße noch gut machbar, dann wird es schwieriger und so manche Passage zur Herausforderung. Einmal bin ich zu langsam und bleibe mit dem Hinterrad an einem Felsen hängen. Wolfgang schiebt mich an und ich schaffe es, weiterzufahren. Wir brauchen lange, bis wir oben sind, weil wir ständig stehen bleiben, Fotos machen, staunen. Das Wetter ist perfekt, die Sonne sorgt auch in luftigen Höhen noch für angenehme Temperaturen. Oben angekommen umarmen wir uns vor Erleichterung, Glück und Stolz. Mir laufen die Tränen herunter. Wer hätte vor einem Jahr darauf gewettet, dass ich mit dem Motorrad auf einem Schotterpass einen Fünftausender wuppen würde? Die Ärzte im Krankenhaus ganz sicher nicht, sie gaben mir nur noch ein paar Monate. Vier argentinische Motorradfahrer haben es auch geschafft, empfangen uns lautstark, gratulieren uns, sind genauso happy und wir freuen uns gemeinsam.

In San Antonio des los Cobres angekommen tanken wir gerade voll, als uns ein junger Motorradfahrer aus Buenos Aires anspricht und wissen will, wo wir herkommen. Wir nennen den Pass und er sieht ungläubig drein: „Der ist doch geschlossen, weil die Straße zerstört ist?“ fragt er uns und als wir nicht reagieren den Tankwart. Der Tankwart schüttelt den Kopf und murmelt nur: „Schlecht, ganz schlecht.“ Die Moral von der Geschicht? Trau den Aussagen anderer nicht!
Die Nacht verbringen wir im 3800 Meter hoch gelegenen San Antonio des los Cobres. Obwohl ich nach diesem langen und anspruchsvollen Fahrtag total müde sein müsste, bin ich es keineswegs. Wahrscheinlich bin ich vollgepumpt mit Adrenalin und das in Kombination mit dieser Höhe ist keine gute Ausgangslage für erholsamen Schlaf. Ich bekomme kein Auge zu und verbringe den Großteil der Nacht lesend, Film schauend und mich im Bett herumwälzend.
Am nächsten Tag fahren wir auf einer Schotterstraße zu den Grandes Salines, die nach Aussage des Argentiniers, der sich den Pass nicht zutraute, gut zu fahren sein sollte. Zu Beginn gebe ich etwas mehr Gas als sonst, sehe kurz nach links, um die Landschaft zu würdigen, schaue wieder zurück auf die Straße und entdecke ein riesiges Loch, das sich nicht weit vor mir auftut. Fuck! Ich bin zu schnell, um nach rechts oder links auszuweichen, hoffentlich komme ich durch, ohne zu stürzen! Ich bremse ein wenig ab, was halt die Bremsen meiner Royal Enfield hergeben, stelle mich in die Fußrasten und meistere diese gefährliche Passage. Erleichtert atme ich aus. Das hätte böse ausgehen können! Mir wird bewusst, wie schnell diese Reise hätte vorbei sein können und fahre wieder langsamer. Die Straße wird immer schlechter. Übles Wellblech wechselt sich mit sandigen Passagen ab. Wie tief der Sand ist, merkt man meist erst, wenn man durchfährt, oder stecken bleibt. Ich werde immer langsamer und frustrierter. Das soll eine gute Straße sein? Der spinnt wohl! Dann erinnere ich mich an die Aussage unseres Gastwirtes, der im Zusammenhang mit dieser Straße von viel Sand gesprochen und uns „Suerte“, Glück gewünscht hat. Das hatte ich verdrängt. Da sieht man wieder, wie relativ bzw. subjektiv Aussagen sind. Jeder hat andere Stärken und Schwächen, eine andere Wahrnehmung. Wolfgang fährt vor und warnt mich per Handzeichen, bei sandigen Passagen aufzupassen. Irgendwann habe ich keine Lust mehr und würde am liebsten abbrechen, aber das geht natürlich nicht. Für die 100 Kilometer brauche ich fast vier Stunden. Dafür werden wir mit den Salinas Grandes belohnt, einem großen Salzsee, den wir bereits von Weitem sehen können. Ausgehungert essen wir verschiedene Fajitas und meine Laune steigt schlagartig. Mit einem Führer dürfen wir den Salzsee befahren, es ist großartig!


Auf einer Teerstraße geht es anschließend nach Susques, einem kleinen Ort nahe der Grenze zu Chile. Vor dem „Kaktus“-Hotel sammeln sich um die 15 Biker, lauter Männer, die meisten Argentinier, ein paar Brasilianer sind auch darunter.
Über den Paso Jama geht es weiter Richtung San Pedro de Atacama. Nochmals geht es auf fast 5000 Meter hoch, diesmal aber auf Asphalt. Die Landschaft ist atemberaubend. Immer wieder halten wir an, um Alpakas oder Flamingos in den Salzpfannen zu beobachten und die Landschaft zu bestaunen.




Lange verbleiben wir auf dem Hochplateau, einem Teil des Alti Plano. Der Grenzübergang gestaltet sich diesmal für mich schwierig. Die Dame auf der argentinischen Seite klärt mich auf, dass ich nicht mit dem geliehenen Motorrad hätte einreisen dürfen und dass Nina ohne Wohnsitz in Chile dieses gar nicht hätte kaufen dürfen. Warum konnte ich dann problemlos nach Argentinien einreisen? Und warum hat uns das chilenische Konsulat in München die Declaracion Juradaausgestellt? Sie befragt den Chef und sie drücken ein Auge zu. An der Grenze essen wir noch unser Obst, weil es nicht erlaubt ist, Früchte einzuführen. Vorbei geht es an den gigantischen Andengipfeln, Vulkane ragen wie Riesen heraus.

Wir planen zwei Ruhetage und checken in einer sehr hübschen Unterkunft ein, teurer als die Unterkünfte zuvor, aber das gönnen wir uns. Andrès, ein chilenischer Motorradfahrer, der im Tourismus tätig ist, schaut vorbei und vermittelt uns einen realistischen Eindruck von den Schotter- und Sandpisten hier. Die Wege sind teilweise in verheerendem Zustand und die farbige Gestaltung auf der Karte stimmt auch nicht immer. Rote Straßen, also Hauptverkehrsstraßen, die eigentlich geteert sein sollten, sind demnach häufig unbefestigt. Er erzählt von Unfällen, ja gar Todesfällen, weil die Leute – vor allem Brasilianer – zu schnell und unvorbereitet unterwegs sind und die Höhe des Altiplano unterschätzen.
Das Offroad-Training mit Andres macht einerseits Spaß und bringt mich andererseits körperlich und mental an meine Grenzen. Wir beginnen mit Übungen, die ich bereits aus dem Mammut-Park kenne. Ich fahre auf noch relativ festem Untergrund Kreise, Achten und Slalom. Beim Kreisfahren soll ich in der Kurve mein Gewicht nach außen nehmen, nicht nur den Po, sondern auch den Oberkörper. Nach und nach steigert Andres den Schwierigkeitsgrad. Ich fasse den Lenker nur mit der äußeren Hand, löse die innere Hand vom Lenker und zeige auf das in der Kreismitte stehende Hütchen. Danach löse ich zusätzlich mein inneres Bein und strecke es zur Kreismitte aus. Das klappt gut, ebenso die Achter und ich bin motiviert. Beim Slalomfahren steure ich das Motorrad durch Gewichtsverlagerung. Geht auch. Dann wird es schwieriger. Ich soll meine Füße aus dem Stand schnell auf die Fußrasten setzen, den ersten Gang einlegen und losfahren. Ohne einen Fuß abzusetzen. Es gelingt mir auch nach mehreren Versuchen nicht. Andres fährt mit Olivia und ist der Ansicht, dass mit der Lenkung etwas nicht in Ordnung ist. Ach je, auch das noch. Vielleicht erklärt das aber auch, dass ich von Anfang an ein anderes Gefühl auf dieser Maschine hatte, als auf den beiden anderen Himalayans in Tadschikistan. Danach wechseln wir das Gelände. Nun soll ich den Kreis im Sand fahren. Mein Motorrad schlingert, ich fange an zu schwitzen, jetzt muss ich raus aus meiner Komfortzone. Um einen arg durchfurchten Bereich mache ich einen großen Bogen. Kreis kann man das nicht nennen. Danach wechseln wir noch einmal das Gelände und jetzt bin ich nicht mehr in der Lern-, sondern fast in der Panikzone. Der Sand ist sehr tief, zu tief für mich, ich bleibe ständig stecken, die zuvor geübte Technik (Gewicht nach hinten, Kurventechnik) kann ich nicht umsetzen, weil ich nur noch verkrampft bin. Das Motorrad steckt einmal bis zum Motor im Sand, es ist quasifreistehend.

Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man legt es hin und schaufelt Sand unter das Hinterrad, oder man läuft seitlich nebenher und versucht, es herauszufahren. Beides ist irre anstrengend. Wenn ich mit einem Bein abstützen muss, soll ich gleichzeitig Gas geben. Das bekomme ich hin. Beim Anfahren ein paar Mal hin- und her wippen, dann Gas geben und mit den Beinen anschieben. Ja blöd, wenn man so kurze Beine hat wie ich und kaum den Boden berührt. Mit beiden Beinen stützelnd taste ich mich die schwierigen Bereiche langsam vorwärts. Ich werde immer mutloser. Irgendwie hatte ich mir erhofft, nach dem Training souverän durch den Sand fahren zu können, aber das erfordert natürlich viel Übung oder Naturtalent. Beides fehlt mir. Zum Schluss kommt nochmal eine Steigerung: Eine Mischung aus Geröll und tiefem Sand mit einer Durchfahrt durch ein ausgetrocknetes, sandiges Flussbett. Wir begehen diese Strecke zuerst und für mich ist klar, dass ich mir das nicht zutraue. Ok, es gäbe noch eine andere Strecke zurück, die leichter sei. Gut, lass uns die nehmen. Ich stürze zweimal und klemme mir den Fuß zwischen Motorrad und Sanddüne ein. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Ich bin fix und fertig. Andres fährt mein Motorrad durch die Panikzone und wir fahren nach Hause. Wolfgang steht vor seinem frisch gewaschenen Motorrad und fragt, wie es war. Andres erzählt ihm, wie toll ich fahren würde. Nein, das sehe ich anders. Daraufhin meint Andres, dass ich es immerhin geschafft hätte, die Strecken zu meistern, er hätte auch schon Schüler gehabt, die gar nicht vorwärtskamen. Das ist nett von ihm, aber es hilft mir nicht wirklich weiter. Ob der Sand und ich noch Freunde werden?
Beim Einkaufen in San Pedro de Atacama werden wir beschissen, oder kann man echt so tollpatschig sein? Wolfgang kauft eine Zahnpasta und stellt fest, dass für diese 25 000 Peso von seiner Karte abgebucht wurden, also umgerechnet 25€. Das muss ein Versehen sein. Er geht zurück in den Laden und die Verkäuferin bezahlt ihm die Differenz aus. Daraufhin checke ich meine Kreditkartenabbuchung und sehe, dass bei mir der gleiche Fehler vorliegt. Eine Null zu viel. Eine Bodylotion und fünf Müsliriegel kommen auf 111 350 Peso, bzw. 111€. Ich laufe ebenfalls zurück zum Geschäft, die Dame ist einsichtig, will mir die Differenz aber nicht in bar ausbezahlen. Es dauert ewig, bis sie den Betrag auf meine Karte zurückbucht. Wir nehmen uns vor, die Beträge künftig immer sofort zu checken. Allerdings sind die Zahlen auf den Quittungen so klein, dass man sie kaum lesen kann.
André, mein Offroad-Trainer ist der Meinung, dass ein Gummi gebrochen sein könnte, weil der Lenker nicht tut, was er tun soll. In Calama ist eine Motorradwerkstatt und die soll Olivias Lenker anschauen. Unsere Vermieterin erzählt uns, dass in Calama organisierte Banden Touristen beim Autoverleih folgen und wenn diese im Supermarkt einkaufen, das Auto aufbrechen, das Gepäck mitnehmen oder gleich das ganze Auto. Nach Calama fahren wir morgen.
Ich habe kein gutes Gefühl, als ich in Calama vor der Werkstatt stehe. Generell mag ich Werkstätten nicht, weil man nie wirklich nachvollziehen kann, was sie gemacht haben bzw. was es wirklich gebraucht hat. Und dann noch im Ausland! Aber Wolfgang ermutigt mich, das Bike checken zu lassen, was sich als gut herausstellt, da ich nach drei Stunden erfahre, dass nichts kaputt ist, sondern lediglich Dreck das Hängen der Lenkung verursacht hat. Mit den 35€ für die Reinigung, bei der das Vorderrad ausgebaut, mehrere Teile gesäubert und geschmiert wurden, bin ich mehr als einverstanden.
Da Calama eine hässliche Stadt ist, fahren wir weiter bis Chiu-Chiu, einem ganz kleinen Ort mit einer wunderbaren Unterkunft und einer herzlichen Gastgeberin. Hier wohnen auch Geologen, die Kupfer suchen und wir treffen auf ein Paar, das bereits seit eineinhalb Jahren auf Achse ist, und uns wertvolle Tipps gibt.
Eine faszinierende Fahrt durch eine Hochebene mit unzähligen Vulkanen und Salzseen führt uns Richtung Bolivien. Von weitem sehe ich auf der geraden Straße einen kleinen Pfad, der auf einen Vulkan führt. Wir fahren hin und kämpfen uns hoch durch das Lavageröll. Da wir auf ca. 3500 Meter sind, ist diese Aktion ganz schön anstrengend, aber als wir es geschafft haben, genießen wir einen herrlichen Einblick in den Kraterschlund sowie Ausblick auf den dahinterliegenden Vulkan und die vor uns liegende Ebene.

Bei der Weiterfahrt sehe ich dunklen Rauch über einem Vulkan aufsteigen. Nach zwei weiteren Kuppen erkenne ich, dass dies der Qualm eines Zuges ist, der Loren durch die Landschaft schleppt.
Durch die Vulkanwanderung und die unzähligen Stopps kommen wir spät und müde in Ollagüe, dem Grenzort kurz vor Bolivien an und verschieben den Grenzübertritt auf den nächsten Tag. Ollagüe gleicht einerseits einer Geisterstadt im Wilden Westen, hat aber auch ein Museum. Wir sehen uns zwei Unterkünfte an und entscheiden uns für die zweite, weil wir hier mit einem Lächeln empfangen werden – obwohl die erste schöner war. Und wir brauchen Wifi, das gab es bei der ersten auch nicht. Der Wind bläst draußen wie verrückt und wir freuen uns über eine herrlich heiße Dusche, heißen Tee, eine warme Suppe und einen Teller Spaghetti, nachdem wir seit dem Frühstück nichts gescheites mehr zum Essen hatten. Im Hostal wohnen auch Bergarbeiter, die sich nach dem Essen sofort in ihr Zimmer zurückziehen. Der Ort liegt 3800 Meter hoch, mal sehen wie die Nacht wird. Sie wird sehr kalt, aber insgesamt besser als erwartet. Bis drei Uhr schlafe ich durch, danach werde ich oft wach, schlafe aber wieder ein. Unter die drei Decken des Hostals schiebe ich noch meinen kuschelig warmen Daunenschlafsack und behalte meine warme Patagonia-Jacke an.
Ende von Marion‘s Reisebericht
Von Marion: Die erste Reisewoche – Okt24
Santiago de Chile – Uspallata – Callingasta – San José de Jachal – Famatina – Cafayate – 1390 Kilometer:
Treffpunkt mit Wolfgang ist Santiago de Chile, eine Stadt, die man auch in Europa finden könnte, so mein erster Eindruck. Sie ist modern, sauber und erstickt im Verkehr. Aber die aus Plastikplanen und Schrott sehr behelfsmäßig zusammengezimmerten Zelte am Ufer des Flusses zeigen, dass es hier auch sehr arme Menschen gibt. Wir steigen im Hostal Casa Matte ab, einem bekannten Motorrad-Treff in Santiago. Und tatsächlich, hier wohnen nur Biker, und was für welche! Wir treffen auf den 78-jährigen Chris aus Amerika, der seit 14 Jahren unterwegs ist und nur gelegentlich zu seinen Kindern und Enkelkindern heimfliegt. Er will nicht mehr zurück, wegen der Politik. „Politiker sind alle gefährlich“, sagt er, „aber Trump ist mit Abstand der Schlimmste. Er ist machtbesessen und will unsere Demokratie zerstören.“ Chris hat sich im Laufe seines Lebens so ziemlich alles gebrochen, was man sich nur brechen kann. Das linke Bein und der linke Fuß bestehen aus Titan. Er geht mit Hilfe eines Stockes und schaltet mit der Ferse. Chris will Richtung Süden nach Feuerland, um mit einem russischen Schiff in die Antarktis zu fahren. „Der letzte Kontinent, der mir noch fehlt“, sagt er mit einem Lächeln. Unglaublich. Zwei Amerikanerinnen transportieren ihr Surfbrett am Motorrad, sie fahren die Küste entlang und wollen auch Richtung Süden.

In der winzigen Küche des Hauses, das sicher einmal sehr schön war und jetzt ziemlich heruntergekommen ist, sammelt sich eine illustre Gruppe an Menschen. Neben den Reisenden wohnt hier auch eine alte Dame, der autistische etwa achtjährige Sohn des Besitzers springt herum und ist in seiner eigenen Welt.
Es ist Frühling, Kastanien und mir unbekannte Bäume blühen. Man setzt sich in ein Flugzeug und kommt in einer anderen Jahreszeit heraus, das fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Das Wetter ist im Moment sehr wechselhaft und kalt. Eigentlich wollen wir Richtung Mendoza in Argentinien, aber der entsprechende Pass liegt auf 3000 Metern und ist wegen des schlechten Wetters seit Tagen gesperrt. Dann nehmen wir halt den nächsten, war unsere Idee, bevor wir erkennen mussten, dass die meisten Pässe zwischen Chile und Argentinien ja über die Anden gehen, und dieser noch höher liegt und erst im Dezember öffnet. Ich nutze die Zeit des Wartens, hole mein Motorrad ab, erledige den Behördenkram, lege es mit Wolfgangs Hilfe tiefer und lasse neue Reifen aufziehen.

Das große Plus am Casa Matte ist die Werkstatt, in der man alles findet und immer eine hilfsbereite Hand zur Seite ist.

Christian, der Besitzer fragt mich, wie meine Himalayan heißt. Ich habe noch keinen Namen. Er nennt einen männlich klingenden Namen, den ich vergessen habe. Nein, das passt nicht, sie ist auf jeden Fall weiblich. „Wie hieß deine erste große Liebe?“, frage ich Christian. Er überlegt lange und sagt schließlich: „Olivia“. Ok, dann nenne ich sie Olivia.
Am nächsten Tag ist es so weit: Die Sonne scheint, der Pass ist geöffnet, wir können los! Kurve für Kurve schrauben wir uns den herrlichen Pass hoch, bis eine lange Autoschlange vor uns ist.

Wie gut, dass man mit dem Motorrad überholen kann! Im Tunnel steckt ein LKW fest, aber wir können uns durchschlängeln. Die Grenze passieren wir schneller als gedacht. Der Grenzübergang ist gut organisiert. Trotz des hohen Verkehrsaufkommens sind wir schnell an der Reihe. Man bekommt einen Laufzettel und muss sich an drei verschiedenen Stellen einen Stempel abholen. Bei Wolfgang geht das recht flott, bei mir dauert es etwas länger, da ich nicht die Besitzerin des Fahrzeugs bin. Ein netter Grenzbeamter läuft mit mir weitere Büros an, die vielen Genehmigungen von Nina, der Besitzerin werden alle kopiert und dann können wir fahren. Die Landschaft ist atemberaubend. Sie erinnert mich an Tadschikistan, aber irgendwie ist sie doch anders.

Wir landen in dem hübschen Ort Uspallata in einem netten Hostel mit herrlichem Garten und Blick auf die verschneiten Berge.

Beim Abendessen erreicht mich eine Nachricht von Klaus. Er schreibt: „Ich bin so stolz auf dich! Erst trittst du den Krebs in den Allerwertesten, dann schreibst du dein Buch und jetzt ziehst du noch Südamerika durch.“ Da wird mir bewusst, dass es diesmal geklappt hat und ich tatsächlich in Südamerika bin.
Es geht Richtung Norden, wir wollen nach Bolivien, nach Peru, mal sehen. Eine atemberaubende Fahrt entlang der verschneiten Anden im Hintergrund erwartet uns.


Steinformationen in allen erdenklichen Farben, selbst in lila! Der Wind ist teilweise so stark, dass meine Olivia bei Vollgas nur noch 80km/h schafft und mir die Jacke so stark andrückt, dass sie mir fast die Gurgel zudrückt. Und als ich denke, dass wir hier sicher keine Radfahrer sehen werden, kommen die ersten strahlend um die Ecke gestrampelt. Jedes Mal bin ich auf´s neue fasziniert von diesen Wahnsinnssportlern. Was für eine Leistung!
Wir übernachten in dem kleinen Ort Calingasta im Hotel Nora, das, obwohl es fast auseinanderfällt, mit seinen bunten Farben sehr charmant wirkt. Zum Abendessen finden wir ein Restaurant, das geschlossen ist und mit der lauten Musik im Inneren einer Disco ähnelt. Wir drücken unsere Nase an der Fensterscheibe platt und wollen schon gehen, als eine Frau uns öffnet. Wir verstehen nicht, was sie alles sagt, aber wir bekommen leckere Empanadas von ihr gebacken und sind die einzigen Gäste. Nach uns sperrt sie wieder zu. Der erste Eindruck in diesem Land: Die Leute sind unkompliziert und fröhlich!
Und dann ist er wieder da, dieser Moment, den ich so liebe: Nachdem das Gepäck verzurrt ist, geht es auf die Straße. Mit dem Beginn eines neuen Tages beginnt für mich eine neue Reise, ja ein neues Leben. Dieses Gefühl des Weiterfahrens, Neuerlebens ist so beglückend, das lässt sich schwer in Worte fassen. Wir fahren zu einer Christusstatue hoch und treffen auf drei Argentinier, ebenfalls auf Motorrädern.

Wir unterhalten uns mit unserem bisschen Spanisch und mit Händen und Füßen. Als sie erfahren, dass wir nach San José de Jàchal wollen, schenken sie uns zwei Keksriegel, damit wir genug Energie haben. Die brauchen wir tatsächlich auch, denn die Strecke ist lang und besteht fast nur aus Schotterpisten, die mitunter für mich schwierig zu befahren sind. Vor allem den tiefen Sand mag ich nicht. Wenn Olivia anfängt zu schlingern, verkrampfe ich mich in den Schultern. Statt mutig Gas zu geben, gehe ich meistens ängstlich vom Gas weg. Während Wolfgang souverän von dannen düst (und später auf mich wartet), bin ich offroad deutlich langsamer unterwegs. Dieser Schotter ist anders als in Zentralasien, auf dem ich eigentlich super zurechtkam. Auch die Enfield verhält sich nicht ganz wie gewohnt. Vielleicht liegt es daran, dass ich auch vorne an den Sturzbügeln Taschen befestigt habe? Ich muss noch üben, um schneller und sicherer zu werden. Es geht eine gefühlte Ewigkeit geradeaus und ich muss mich wahnsinnig konzentrieren, das ist sehr anstrengend. Plötzlich springen zwei Lamas über die Straße. Wir halten an und sehen ein ganzes Rudel. Dann folgt der zweite Moment, den ich liebe: nach stundenlanger Fahrt im Nirgendwo finden wir irgendwann ein Restaurant. Ich kann ausruhen und das Essen einer anderen Kultur probieren. Der dritte Moment, den ich liebe, passiert heute auch: Wir fahren über eine Kuppe und die Landschaft ändert sich komplett, als wären wir in einem anderen Film, einer anderen Welt. Natürlich gibt es auch Situationen, die nicht so toll sind: Wenn eine Straße ewig geradeaus geht, dann kann das schon mal sehr langweilig werden, je nach Landschaft.

Abgesehen von den manchmal recht langen Straßen gefällt mir Südamerika bisher sehr. Tolle, abwechslungsreiche Landschaften, nette Leute, schöne Ortschaften, meist mit einer begrünten Plaza in der Mitte als Treffpunkt. Alles ist super einfach und entspannt. Und das Essen ist gut, das ist natürlich wichtig! Das Frühstück fällt bei den Argentiniern karg aus, ähnlich den Italienern gibt es ein Minicroissant oder Weißbrot, das reicht für mich nicht, um für die langen Strecken gestärkt zu sein und ich kaufe oft Obst oder Joghurt dazu, was es halt an dem jeweiligen Standort gibt. Aber die Gerichte zum Mittag- und Abendessen sind lecker, meist mit Fleisch. Einmal wollten wir fleischlos essen und haben Spaghetti bestellt. Da lag dann ein Hühnerbein darauf …
Egal wo wir stehen, sprechen uns die Leute an. Vor allem Wolfgangs top ausgestattete BMW erregt Aufmerksamkeit. Die Motorrad-Community ist international. Egal, wo man sich trifft, man spricht sich an, ist sofort per du, hat eine gemeinsame Leidenschaft, die stark verbindet. Ein Argentinier reicht mir einen Aufkleber für seinen Youtube-Kanal mit der Aufschrift: „El mejor momento para viajar es ahora porche después es nunca“, was so viel heißt wie: „Die beste Zeit zu reisen ist jetzt, denn später ist nie.“ Ja, wer weiß schon, was kommt?

Ende von Marion‘s Reisebericht